Über dem Richter gibt es nur den Himmel – Wie schwer wiegt Rassismus in Zusammenhang mit einer Straftat?

In den letzten 15 Jahren hat ReachOut vielen Menschen Beratung angeboten, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion, ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Ethnizität Opfer von rassistisch motivierter Gewalt wurden. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist, neben der Beratung auch die Begleitung zu Gerichtsprozessen. Hierbei beobachten wir immer wieder, welche Schwierigkeiten die Betroffenen haben noch einmal ihre Gewalterfahrung in der Öffentlichkeit ausführlich zu schildern und dabei nur selten auf Empathie von im Prozess beteiligten „neutralen Instanzen“ – sprich Gerichtsbarkeit, Staatsanwaltschaften und Polizei – zu treffen.

In unserer Arbeit beobachten wir immer wieder, welche Schwierigkeiten Opfer von rassistischer Gewalt haben die Prozesse, angefangen mit der polizeilichen Ermittlung bis zur Anklage und Gerichtsurteil, zu begreifen. Oftmals ist es nicht nachvollziehbar wie die Ermittlungen gegen die Täter*innen gelaufen sind, wie/warum die Staatsanwaltschaft zu verschiedenen Entscheidungen kommen und letztendlich den Urteilsspruch der Richter*innen.

Eine fruchtbare Auseinandersetzung über Rassismus im Bezug auf das Justizsystem wird zusätzlich dadurch erschwert, dass ein vermeintlich „Colour blindes“ Gericht von der überwiegenden Mehrheit der Law community und auch der allgemeinen Öffentlichkeit angenommen wird. Der herrschende Mythos, dass Gerichte und Ermittlungsbehörden neutral seien, muss dekonstruiert werden. Die Polizei, Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichtsbarkeit sind keine neutralen Institutionen; auch sie sind in der rassistischen Gesellschaft verankert und müssen bewusst institutionellen und strukturellen Rassismus in der eigenen Behörde bekämpfen. Heute wird kein*e Polizeibeamter*in, Staatsanwalt*in oder Richter*in sich eine offene rassistische Bemerkung erlauben. Was allerdings geschieht, ist die ständige Verleugnung von Rassismus in den Institutionen und in der Struktur. Indem Rassismus auf individuelle Rassist*innen und auf Neonazis und Rechtspopulist*innen geschoben wird, können Institutionen als frei von Rassismus erklärt werden. […]

Wir haben 2013 im Rahmen eines Seminars von Frau Professor Dr. Iman Attia von der Alice-Salomon-Hochschule, das Thema Rassismus und Justiz und welche Wichtigkeit die Begleitung der von rassistischer Gewalt betroffenen Menschen durch Gerichtsprozesse hat, bei den Student*innen vorgestellt. Darüber hinaus, haben wir über die Notwendigkeit eines Monitorings der Justiz diskutiert. Daraus entstand eine Arbeitsgruppe, die über die wissenschaftliche Rezeption des ‚Criminal Justice System‘ (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtsbarkeit und Gefängnis) in Deutschland recherchieren sollte. Wir stellten fest, dass diesbezüglich kaum deutschsprachige Literatur vorhanden ist. Wir konsultierten englischsprachige Literatur und entschieden uns außerdem eine systematische Beobachtung und Analyse von Gerichtsprozessen, in denen es um rassistische Gewalt, Beleidigung, Bedrohung bis hin zu Mord ging, vorzunehmen. Natürlich war unser Ausgangspunkt die Perspektive der Opfer. Außerdem führten wir Diskussionen mit sowohl wissenschaftlichen Institutionen wie die Law-Clinic der Humboldt Universität, das Deutsche Institut für Menschenrechte als auch mit Verbänden wie dem Republikanischen Anwält*innen Verein, sowie mit einzelnen Anwält*innen.

Nach einem Jahr intensiver Arbeit, haben wir uns entschieden, unsere Arbeit – Notwendigkeit und Methode der Prozessbeobachtung und die Analyse der Öffentlichkeit zu präsentieren.

2015 veranstalteten wir eine Vortragsreihe mit vier Vorträgen und Diskussionen zwischen Februar und Dezember um unsere Beobachtungen und Analyse der Öffentlichkeit vorzustellen. Diese Broschüre ist ein Ergebnis der damaligen Veranstaltungsreihe.